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Kampf der Moleküle

Krebs wird von individuellen Genveränderungen ausgelöst. Greift man diese zielgerichtet an, kann das den Tumor stoppen. Im Molekularen Tumorboard am Westdeutschen Tumorzentrum wird nach diesen Veränderungen und präzisen Therapien dafür gesucht.

Ein Juckreiz kann Hunderte Ursachen haben, die allermeisten davon sind harmlos. Als Angela Wiegand bemerkt, dass ihr ganzer Körper von den Fußsohlen bis zur Kopfhaut juckt, obwohl ihre Haut unverändert ist, macht sie sich Sorgen. „Irgendwann bin ich zum Arzt“, erinnert sich die 58-Jährige an diesen Praxisbesuch im April 2017. Bei der Untersuchung stellt sich heraus: Ihr Körper reagiert mit dem Symptom auf einen Stau in der Leber. Die dort produzierte Gallenflüssigkeit kann nicht abfließen, weil ein Tumor auf die Gallengänge drückt. Bauchspeicheldrüsenkrebs.

Angela Wiegand hat ihren Bauchspeicheldrüsenkrebs mit einer neuartigen Therapie behandeln lassen. (FOTO: JAN LADWIG)

Angela Wiegand hat ihren Bauchspeicheldrüsenkrebs mit einer neuartigen Therapie behandeln lassen. (FOTO: JAN LADWIG)

Ich dachte, jetzt bin ich tot“, beschreibt die Duisburgerin ihre Schockstarre nach der Diagnose. Als Gesundheits- und Krankenpflegerin weiß sie, dass Tumoren der Bauchspeicheldrüse oft aggressiv sind. „Meine Familie musste mich fast überreden, mich bei einem Spezialisten vorzustellen“, erinnert sie sich. Ihre Tochter macht ihr schließlich einen Termin im Universitätsklinikum Essen. Dort stellt sich bei der Computertomografie heraus: Zum Glück hat der Krebs nicht gestreut. Trotzdem musses jetzt schnell gehen, der Engpass der Gallenwege ist lebensbedrohlich. Wiegand wird operiert und bekommt eine Chemobehandlung. Ein halbes Jahr lang unterzieht sie sich der kraftraubenden Therapie. Mit Erfolg: Die Zahl der Tumormarker in ihrem Blut, die ein Überleben einzelner Krebszellen anzeigen, sinkt. „Irgendwann konnte ich wieder mein normales Leben aufnehmen und arbeiten gehen“, sagt Wiegand. Dann, im Sommer 2018, bricht sie sich ein Bein. Es ist Zufall, aber etwa zur selben Zeit steigt die Zahl der Tumormarker wieder an. Monate später zeigt sich der Krebs dann auch wieder im Bild: Ein CT dokumentiert eine Ansammlung entarteter Zellen in der Nähe des Ursprungstumors.

Zielgerichteter Angriff

Währenddessen analysieren Onkologen, Molekularbiologen und Bioinformatiker ihren Tumor. Brauchte man für die Sequenzierung eines Gencodes – also das Entziffern der Basenpaare – vor zehn Jahren noch Jahre, schaffen modernste Geräte das in wenigen Tagen. Mit Hilfe von Analyse-Algorithmen und künstlicher Intelligenz suchen Forscher nach Mustern in der Erbinformation. Zuerst erwägen die Ärzte eine erneute Chemotherapie. Doch dann ergibt sich eine andere Option. „Wir hatten bei der Sequenzierung des Tumors eine sehr seltene Mutation gefunden, die beim Bauchspeicheldrüsenkrebs so noch nicht beschrieben wurde, die wir aber aus anderen Tumorarten kannten“, erklärt Prof. Jens Siveke, Direktor des Brückeninstituts für Experimentelle Tumortherapie am WTZ und Leiter der Abteilung für Translationale Onkologie Solider Tumore im Netzwerk des Deutschen Krebskonsortiums. „Das eröffnete die Chance für eine zielgerichtete Therapie.“

"Es war sensationell, ein bisschen wie Zauberei." - Angela Wiegand

Die Idee dazu entsteht im Molekularen Tumorboard, einer Einheit im WTZ, die es in Essen seit Juli 2019 gibt (siehe Kasten). Interdisziplinäre Runden, bei denen Ärzte unterschiedlicher Fachbereiche regelmäßig über onkologische Fälle beraten, gibt es für viele Krebsarten seit Langem. Das Molekulare Tumorboard geht noch weiter: Hier sitzen neben Onkologen und Pathologen auch Humangenetiker, Molekularbiologen und Bioinformatiker mit am Tisch. „Wir treffen uns einmal die Woche, um Fälle eigener oder von außerhalb angemeldeten Patienten zu besprechen“, sagt Siveke. Diskutiert werden zwei Fragen: Welche individuelle molekulare Diagnostik ergibt für einen Patienten Sinn? Und, wenn es bereits eine Diagnostik gibt: Aus welcher molekularen Zusatzinformation leitet sich vielleicht eine neue Therapieoption ab?

Am molekularen Tumorprofil von Angela Wiegand fällt den Experten die besondere Struktur auf: Offenbar treibt in ihren Zellen ein bestimmter Wachstumsfaktor das Tumorwachstum an, der ohne die sonst nötigen äußeren Signale dauerhaft aktiviert ist. Ließe sich der Krebs stoppen, indem man ihn in Form einer Tablette blockt? Diese personalisierte Therapie würde ihr möglicherweise eine weitere Chemo ersparen. „Professor Siveke hat das mit mir durchgesprochen, und gemeinsam haben wir entschieden, den Versuch zu wagen“, sagt Wiegand. Im Spätsommer bekommt sie die erste Tablette.

Und der molekulare Präzisionsangriff wirkt: Die Werte des Tumormarkers sinken binnen zwei Monaten von 16.000 auf 3.000, später gegen null. „Es war sensationell“, sagt Wiegand, „ein bisschen wie Zauberei.“ Der Tumor ist verschwunden, als geheilt gilt sie noch nicht. Die Tabletten muss sie – vermutlich für immer – täglich nehmen und alle paar Monate ins CT. Auch ihr Blut wird regelmäßig auf Tumormarker gecheckt. Für eine echte Prognose fehlt es an Langzeitdaten, denn die molekulare Methode ist jung. Angela Wiegand glaubt aber, dass sie die Zukunft ist: „Ein zielgerichteter Angriff: Das wird irgendwann der Weg sein.“

Molekulares Tumorboard

Im Molekularen Tumorboard des Westdeutschen Tumorzentrums (WTZ) arbeiten die Universitätsklinika Essen und Münster eng zusammen. Ziel ist, personalisierte Therapiemethoden anhand individueller Tumoreigenschaften zu finden. Einmal pro Woche schalten sich die Onkologen, Pathologen, Humangenetiker, Molekularbiologen und Bioinformatiker der beiden Standorte per Videokonferenz zusammen und diskutieren aktuelle Fälle.

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